Inmitten der größten Krise der EU übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Darauf hatte sich die Bundesregierung lange vorbereitet und frühzeitig ihre Karten auf den Tisch gelegt: Ein innovatives Europa mit dem schrittweisen Übergang zu einer grünen Wirtschaft (European Green Deal) wollte sie voranbringen, die Digitalisierung energisch fördern und endlich mit den anderen EU-Mitgliedern ein neues, gemeinsames Fundament für die Migrations- und Asylpolitik verabreden.
Inmitten der größten Krise der EU übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Darauf hatte sich die Bundesregierung lange vorbereitet und frühzeitig ihre Karten auf den Tisch gelegt: Ein innovatives Europa mit dem schrittweisen Übergang zu einer grünen Wirtschaft (European Green Deal) wollte sie voranbringen, die Digitalisierung energisch fördern und endlich mit den anderen EU-Mitgliedern ein neues, gemeinsames Fundament für die Migrations- und Asylpolitik verabreden. Außen- und handelspolitisch sollten die Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich, zu den USA und zu China mit der Maßgabe der Erhaltung des Multilateralismus und der Handelsfreiheit neu definiert werden. Im Herbst sollte ein EU-China-Gipfel den Weg weisen, wie die EU und China die Globalisierung neugestalten wollen. Nicht zuletzt gab es Anzeichen, dass die. Bundesregierung bereit sein könnte, bei den Verhandlungen über das künftige EU-Budget ihre bisherige Bremserfunktion hinter der während der Ratspräsidentschaft angemesseneren Rolle des Vermittlers zurücktreten zu lassen und dadurch auch eine Erhöhung des Finanzrahmens der EU für die Periode 2021-2027 einzusetzen. Die europäischen Partner wussten also, was sie von der deutschen Ratspräsidentschaft erwarten konnten.
Doch dann kam die COVID-19 Pandemie, die die EU in eine bisher nie gesehene Krise der öffentlichen Gesundheitsversorgung und der gesamten europäischen Wirtschaft stieß. Mehr noch: Die Pandemie versetzt die gesamte Weltwirtschaft in eine Schockstarre, die in den nächsten Monaten und Jahren eine Weltwirtschaftskrise befürchten lassen muss, die das liberale Welthandelsregime, das seit Ende des Weltkriegs friedliche Kooperation durch wirtschaftliche Verflechtung fördern wollte, und damit zusammenhängend den von den Europäer/innen bevorzugten Multilateralismus in Frage stellt.
Angesichts der neuen Lage empfiehlt der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß der Bundesregierung eine völlig neue Prioritätensetzung der deutschen Ratspräsidentschaft: „In den Mittelpunkt rücken fortan die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen, Krisenmanagement, Exit und Wiederaufbau — womöglich die Aufrechterhaltung der EU-Integration an sich.“
Die postpandemischen Rahmenbedingungen
Offenbar werden durch die Pandemie-Krise gesellschaftliche und wirtschaftliche Trends beschleunigt, die schon seit Jahren sichtbar sind. Ökonomen wie Nouriel Roubini oder Dani Rodrik sehen den Handelskonflikt zwischen den USA und China weiter eskalieren, wodurch die Entkoppelung der beiden Ökonomien beschleunigt werde. Unter diesen Bedingungen würden immer mehr Länder mit einer protektionistischen Politik reagieren, um ihre heimischen Ökonomien vor globalen Verwerfungen zu schützen. Zudem werde es – auch um den Preis höherer Kosten und geringerer Gewinne - zur Rückverlagerung von Produktionsstätten in die Zielmärkte kommen, um Lieferketten zu sichern. Die postpandemische Welt werde somit durch den Rückgang der internationalen Arbeitsteilung gekennzeichnet sein, durch stärkere Beschränkungen der Freizügigkeit und des Austauschs von Gütern und Waren, Dienstleistungen, Kapital, Arbeitskräften, Technologien, Daten und Informationen.
Zudem rufen der Klimawandel und eine instabile Finanzwirtschaft in immer kürzer Folge große Disruptionen der Weltwirtschaft und somit die Rücknahme der Globalisierung hervor. Die Repatriierung (Reshoring) von Produktionsstätten und die Etablierung „robuster“ Lieferketten innerhalb von Netzwerken politisch befreundeter und verlässlicher Länder erscheint vor diesem Hintergrund nachhaltiger als das effizenzorientierte Offshoring, das die Welt seit den 90er Jahren gesehen hat. Schon beginnen die Ratingagenturen, in ihre Beurteilung von Unternehmen Gesichtspunkte der Resilienz (des Klimaschutzes, aber mehr noch der Sicherheit der Lieferketten und der Zugehörigkeit zu einem verlässlichen Netzwerk) einzubeziehen.
Auf politischer Ebene stellen der neue kalte Krieg zwischen den USA und China und die Konflikte mit anderen Herausforderern wie Russland, Iran, Nord-Korea den Multilateralismus in Frage. Eine sehr viel konfliktträchtigere multipolare Ordnung konkurrierender Groß- und Mittelmächte steht vor der Tür. Die Europäer sind gefordert, sich zu diesen Konflikten zu verhalten und die Veränderungen zu gestalten ohne sich auseinanderdividieren zu lassen, wie dies Chinas mit ihrer Belt and Road-Politik immer wieder gelingt. Wollen auch sie sich zu einer Großmacht in der multipolaren Weltordnung entwickeln, die ihre geopolitischen Ziele mit allen dazugehörigen Machtressourcen (europäische Armee, Euro als Weltwährung, einheitliche Außenpolitik, etc.) verfolgt, oder wollen sie an der regelbasierten multilateralen Weltordnung festhalten und sie in Bündnissen oder Netzwerken mit kleineren Staaten und Staatenbündnissen (z.B. ASEAN) zu sichern versuchen? Für die EU geht es dabei ums Ganze, denn sie ist gegründet auf der Überzeugung, dass sich geopolitische Rivalität durch wirtschaftliche Integration zähmen lässt und dass wirtschaftliche Verflechtung und Freihandel kein Nullsummenspiel sind, sondern die friedliche Kooperation fördern und die Rückkehr zum ökonomischen Nationalismus der 1930er Jahre und seine verheerenden Folgen verhindern.
Auch wenn es für die EU nicht um die Existenzfrage gehen wird, so rütteln diese großen Trends, die sich in der postpandemischen Welt entfalten dürften, doch an ihrer Existenzgrundlage. Europa muss in wichtigen Bereichen strategische Souveränität entwickeln und seine innere Verfasstheit weiterentwickeln. So werden das Verhältnis von Markt und Staat ebenso wie das Verhältnis von Globalisierung und nationaler und regionaler Autarkie neu balanciert werden müssen, will die EU mehr Resilienz in der sich verändernden Welt gewinnen. Tendenziell bedeutet das ein Abrücken von den in Deutschland vorherrschenden Ordnungsvorstellungen von einer liberalen, offenen und wettbewerbsintensiven Marktwirtschaft.
Deutschlands Perspektive auf Europa
Die Erhaltung und Ausdehnung der EU haben für Deutschland überragende Bedeutung. Nur im europäischen Verbund konnte Deutschland nach seinem Krieg gegen die Welt hoffen, in den Kreis der geachteten Völker zurückzukehren. Und nur in einem großen und sich erweiternden europäischen Binnenmarkt konnte und kann Deutschland die Stärken seines Geschäftsmodells zur Geltung bringen. Die Währungsunion höchst heterogener Mitgliedsländer macht die gemeinsame Währung zwar fragil und angreifbar und erzeugt hohe Kosten, sie schwächt aber auch den Außenwert des Euro und lässt die wettbewerbsstarke deutsche Exportwirtschaft zusätzliche Gewinne machen. Die Erhaltung des erreichten Niveaus der europäischen Integration liegt so sehr im deutschen Interesse, dass von Deutschland energische Schritte, ordnungspolitische Beweglichkeit und hohe Kostenbeiträge zu seiner Verteidigung erwartet werden können.
In diese Richtung weist der unlängst von Präsident Macron und Kanzlerin Merkel vorgelegte Plan eines schuldenfinanzierten europäischen Wiederaufbaufonds. Mit ihrer Unterstützung gemeinsamer Anleihen der EU, die im Rahnen des EU Budgets an die von der Pandemie besonders betroffenen Mitgliedsländer als Zuschüsse für Projekte vergeben werden sollen, vollzieht die Kanzlerin nicht weniger als eine 180-Grad-Wende. Was sie gestern noch strikt als Verstöße gegen EU Recht und deutsche Überzeugungen ausgeschlossen hatte, soll jetzt möglich werden. Die Warnung von Botschafter Clauß, es gehe um nicht weniger als die Aufrechterhaltung der EU Integration, wird in Berlin offenbar sehr ernst genommen.
Die deutsche Regierung sieht die Gefahr des Auseinanderbrechens der EU und akzeptiert (trotz Artikel 310 und 311 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, die der Kommission eine Kreditfinanzierung ihrer Ausgaben verbieten) – wie sie sagt: für begrenzte Zeit – die gemeinsame Schuldenaufnahme. Sie kommt damit Frankreich, das als Sprecher der europäischen Südländer auftritt, weit entgegen. Kommt der Wiederaufbaufonds, wie ihn Merkel/Macron oder in erweiterter Form die EU Kommission vorgeschlagen haben, dann bedeutet das einen großen Schritt in Richtung auf eine europäische Fiskalunion. Der Mangel einer bloßen Vergemeinschaftung der Währung würde behoben. Die von der Europäischen Zentralbank (EZB) betriebene europäische Währungs- und Wirtschaftspolitik würde dorthin zurückgeholt werden, wohin sie hingehört: in die Arena politischer Debatte und politischer Kompromisse und demokratischer Entscheidungen.
Die neue Haltung der Bundeskanzlerin dürfte auch mit dem viel gescholtenen Urteil des deutschen Verfassungsgerichts vom 5. Mai zusammenhängen. Das Gericht hatte geurteilt, dass die Anleiheankäufe der EZB nicht hinreichend demokratisch legitimiert sind. Die in den europäischen Verträgen festgeschriebene Unabhängigkeit der EZB dürfe nicht dazu führen, dass sie durch ihre Anleihekäufe faktisch und ohne Kontrolle („what ever it takes“) in die europäische Wirtschaftspolitik interveniere, während dies doch ausschließlich Sache der demokratisch kontrollierten und legitimierten Politik sei. Das Verfassungsgericht fordert also eine Re-Politisierung und Demokratisierung der europäischen Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Dieser normativen Vorgabe folgt jetzt der deutsch-französische Vorstoß und löst damit voraussichtlich eine integrationspolitische Dynamik aus hin zu einem EU-Haushalt, der sich über kurz oder lang aus eigenen Steuern wird finanzieren müssen. Der sozialdemokratische deutsche Finanzminister Olaf Scholz, der voraussichtlich bei den Wahlen zum deutschen Bundestag im nächsten Jahr auch der Kanzlerkandidat der SPD sein wird, spricht sogar von einem „Hamilton Moment“. Alexander Hamilton, der heute noch die 10-US Dollar-Note schmückt, war der erste amerikanische Finanzminister, der 1790 den hoch verschuldeten Einzelstaaten die Übernahme ihrer Schulden durch den Bundesstaat angeboten hatte. Wenn der deutsche Finanzminister mit seinem Vergleich die europäische Vergemeinschaftung der Schulden ins Gespräch bringt und die EU an der Schwelle zum Bundesstaat sieht, so ist das revolutionär! Freilich wird das deutsche Verfassungsgericht eine solche Gründung der Vereinigten Staaten von Europa aus der Not und unter Berufung auf die Ausnahmesituation der Pandemie nicht akzeptieren. Es wird für Deutschland die politische Debatte und ein Referendum einfordern. Und diese Debatte muss und wird in allen Ländern der EU geführt werden.
Die Europäische Union an der Schwelle zum Bundesstaat?
Mit ihrer neuen Haltung geht die deutsche Kanzlerin in Deutschland und in der EU ins Risiko. In Deutschland muss sie jetzt Farbe bekennen, dass sie für eine gemeinsame Schuldenaufnahme und eventuell auch für die Vergemeinschaftung der Schulden eintritt. Bisher konnte sie sich hinter der Politik der EZB, die die Vergemeinschaftung ja durch ihre Anleihekäufe schon betrieb, verstecken. Ihr politischer Mut geht so weit, dass sie selbst eine Änderung der europäischen Verträge nicht ausschließt. Das würde bedeuten, dass auch die Fortentwicklung der EU nicht mehr außerhalb der Verträge (wie beim Europäischen Stabilitätsmechanismus) stattfindet oder der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs überlassen wird, sondern zurück in die Hände der Politik gelangt. In ihrer Regierungserklärung vom 18. Juni begrüßte die deutsche Kanzlerin die Vorbereitung der „Konferenz über die Zukunft Europas“. Die für Vertragsänderungen anzuwendende Konventsmethode erwähnte sie in diesem Zusammenhang nicht. Gut möglich also, dass die Konferenz über die Zukunft Europas als Testfeld gesehen wird, welche Änderungen eine Chance haben, die dann in einem zweiten Schritt im Europäischen Konvent beraten werden müssen. Die deutsche Ratspräsidentschaft wird hier die Weichen stellen müssen. Sie muss aber mit sehr unterschiedlichen Interessen und zum Teil auch mit hartem Widerstand rechnen.
Im Augenblick wird in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten berechnet, was von den angekündigten EU Mitteln zur Erholung der europäischen Wirtschaft für das eigene Land herausspringen könnte. Die Kommission hat sich bemüht, Länder wie Polen, die der zu erwartenden Integrationsdynamik skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, durch die Aussicht auf einen sehr großen Mittelaufwuchs für die EU Pläne zu gewinnen. Das treibt voraussichtlich einen Keil in die Gruppe der Visegrád-Staaten. Denn die anderen Länder der Gruppe sehen sich weit weniger begünstigt. Sie kritisieren, dass ihnen bei gleicher Bevölkerungsgröße und vergleichbarem Inlandsprodukt weniger Mittel zugedacht werden als den Südländern der EU. Außerdem lehnen sie den zu erwartenden neuen Aufbruch in Europa ab und fürchten um ihre Anteile am EU-Budget. Von den sogenannten Nettozahlern des europäischen Nordens, also außer Deutschland den Niederlanden, Österreich, Schweden, Dänemark und neuerdings auch Finnland, wird schon jetzt klare Ablehnung signalisiert. Sie sind nicht gegen die gemeinsame Schuldenaufnahme der EU, lehnen aber die Auszahlung der Mittel des Wiederaufbaufonds als Zuschüsse ab. Sie akzeptieren nur Kredite und fordern, dass die zur Modernisierung ihrer Verwaltungen und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Empfängerländer eingesetzt werden. Das ist die Haltung, die auch zur Gründung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) führte und die ihren Niederschlag in der Modernisierungsagenda der EU für Griechenland und die anderεn Empfängerländer der ESM-Kredite fand. Dass diese Agenda unterm Strich erfolglos und sogar schädlich war und am Ende in Griechenland den Schuldenstand erhöht hat, ist allen – auch dieser Gruppe der „frugal four“ – klar. Dennoch bestehen sie darauf, dass neue Kredite die Empfänger unter die Disziplin der Finanzmärkte stellen und damit zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit dienen sollen. Ihre Haltung entspricht der Idee, die hinter der Gründung der europäischen Währungsunion gestanden hat. Dagegen wenden sich vor allem Italien, Spanien und Frankreich, die die europäische Solidarität nur dann gewahrt sehen, wenn sie hohe Summen als Zuschüsse möglichst ohne jede Konditionierung erhalten. Ob sie im Gegenzug auch zur Abgabe von fiskalischer Souveränität an eine EU mit eigenem Steuerrecht bereit sind, bleibt abzuwarten.
Zwischen all diesen Gruppierungen müssen in den nächsten Monaten (und darüber hinaus) von der deutschen Ratspräsidentschaft Brücken gebaut werden. Das größte Interesse an einer Stärkung der EU bis hin zum Ausbau eines europäischen Bundesstaates haben zurzeit natürlich die EU Kommission und die Mehrheit der Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Und eigentlich müssten auch Griechenland und Zypern Interesse an einer stärkeren EU haben, denn sie stehen derzeit unter starkem Druck durch Einwanderung und einen aggressiven türkischen Nachbarn, der seine Größe, strategische Bedeutung in der Nato und militärische Stärke rücksichtslos gegen sie ausspielt. Vor allem auch Griechenland hat großes Interesse an einer Vergemeinschaftung seiner Schulden, die den Druck durch die Finanzmärkte verringern und Raum für Politik schaffen würde. Ob und in welchem Umfang Griechenland im Gegenzug auch zur Abgabe von Souveränitätsrechten bereit ist, muss politisch verhandelt werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft wird ihr ganzes politisches Gewicht und vielleicht auch noch viel Geld einsetzen müssen, um die teils sehr unterschiedlichen Interessen und Haltungen einander anzunähern und die EU in Richtung einer politischen Union und einer europäischen Wirtschaftspolitik voranzubringen, die den sich abzeichnenden Herausforderungen in der Welt nach der Pandemie besser als bisher gerecht werden kann.
This article is part of the DOSSIER "FOCUS: COVID-19 - Political Debates on the Pandemic with a European Focus"